Deppner: Blütenblätter und Wassertropfen

Die Materialen der Natur als Übergänge zur Melancholie der Kunst.

 

I. An den Anfang des Spielfilms „Melancholia“ aus dem Jahre 2011 hat Lars von Trier eine Szene gesetzt, die das Missverhältnis des Menschen zu seiner Mitwelt und somit zur bereits mehrfach umgestalteten Natur unmissverständlich vor Augen führt: Eine Strechlimousine bleibt in den ländlichen, enggeführten Weggstrecken Skandinaviens buchstäblich stecken. Die Entfremdung zu Maßstäben, die das Verhältnis zur Natur noch verträglich hätten gestalten könnten, ist offensichtlich. Im Verlauf des Films, offenbart sich – in einen Zusammenprall der Erde mit einem Planeten mündend – eine Untergangsvision in mitten zivilisatorischer Übereinkünfte und Entgleisungen. Wichtig an dieser Projektion menschlicher Hybris ist das Gegenüber eines Vertrauen in die Messkunst des Menschen einerseits und der Anerkennung der unerklärbaren, ja magischen Kraft der Natur andererseits. Zwischen den Polen erscheinen die weiblichen Empfindungen auf der Höhe der Ereignisse, Kraftfeldern gleich, das Weltall umfassend.

Ute Seifert hat ihre Materialien der Natur ebenfalls wie Signale der Korrespondenz zwischen Erde und Himmel platziert, eingespannt in bereits durch Menschenhand gestaltete Wege der Naturordnung und Erfassung. „Zeit wartet nicht“ betitelt eine Installationen aus Blütenblättern, die einzelne Passagen zu zeltähnlichen, aus Teebeutelpapieren und papierumwickelten Drähtchen geformten Behausungen bündelt. Eine Situation des Übergangs ist suggeriert, eines Übergangs ohne Ziel, jedoch ebenso Unruhe wie Verweilen, auf Zeit vermittelnd. Die Messeinheit Zeit, deren Takt die Beherrschung der Natur wie kein zweiter Parameter der Zivilisation auf die Spitze treibt, wird hier auch für die Flüchtigkeit der Existenz als Zeuge aufgerufen. Ihr gegenüber steht der Rhythmus eines Verlaufs, der sich im Kreislauf der Jahreszeiten ereignet, zu dessen Ergebnis auch die abgefallenen Blütenblätter zählen. Jahreszeiten sind immer auch Zeugnisse von Konstellationen, die der Planetenbewegung entsprechen, Konfigurationen des Monds zu Monaten werden lassen und Jahreszeiten ebenso wie Wochentage mit anderen Himmelskörpern in Verbindung setzen.

Zwischen dem kosmisch Großen und dem kosmisch Kleinen ist eine Weltkarte gespannt, jenes Produkt der Vermessung von Welt, der wir die Orientierung auf der Erde verdanken, Kontinente und Meere, Erde und Wasser sowie die Wege dazwischen bezeichnend. Für Ute Seifert ist Wasser vor allem Verbindung, Verbindung die das zusammenfließende Wasser herstellt, Verbindung die von Menschen in der Kommunikation über das Wasser erreicht wird, aber auch Verbindung zu anderen Zuständen, die im Element Wasser selbst begründet sind. In der Installation „Stille Wasser“ transformiert das in sich Bewegung speichernde, flüssige Element zu einem vielgestaltigen Zeichen.

II. Auf einem quadratischen Rahmen mit den Maßen 1,00 m x 1,00 m ist eine große transparente Folie aufgespannt. Diese Folie ist befüllt mit klarem Wasser. Durch das Gewicht des Wassers dehnt sich das Wasserobjekt bauchig um einige Zentimeter nach unten. Befestigt an einer Nylonschnur schwebt alles frei im Raum: Wasser in der Luft, als großer Tropfen ins Licht gestellt. Spiegelungen entstehen, zugleich erzeugt die lupenartige Wirkung des Wassers Verschiebungen in der Raumwahrnehmung. Jede Erschütterung durch Begehen des Fußbodens oder anderer Art versetzt das Wasser zu leiser Vibration. In diesem Störmoment schwingt nach, was die Stille verbirgt: entfesselbare Energie.

Die künstlerischen Materialien sind neben dem Wasser und der Kunststoff-Folie, auch Licht. Gemeinsam ist diesen Materialien, dass sie mit der Transparenz zu tun haben und somit ihre Substanz eine Substanz des Übergangs ist. Ute Seiferts Objekt-Installation „Stille Wasser“ operiert demnach mit den Materialien auf zweierlei Art; zum einen vergegenwärtigt sie die Materialien als Dinge von Substanz, zugleich lässt sie deren Eigenschaft zum Zuge kommen, die einen Übergang zum Immateriellen ermöglichen. Für Leonardo da Vinci war Wasser das zweitschwerste unter den Elementen „und das zweite an Unbeständigkeit…. gern steigt es bei Hitze als feiner Dampf in die Luft: die Kälte lässt es gefrieren, der Stillstand verderben… Jeden Geruch, jede Farbe und jeden Geschmack nimmt es an, und aus sich selbst hat es nichts… Mit einem Schwung oder Sprung kann es in die Höhe schnellen, wie es sonst fällt …“

Übergänge innerhalb des transparenten Materials offenbaren unterschiedliche Zustände und machen es so zu einem Element mit verschiedenen Gesichtern, zu einem Element der Mehrdeutigkeit. Darin ist ebenfalls die Dimension der fließenden Zeit eingelagert, die sozusagen den Wechsel als Abfolge wahrnehmen lässt. Diesem Verlauf ist die Schrift an der Wand, die Installation „Herztöne“ gegenübergestellt. Das Wort „Jetzt“, in handschriftlichem Duktus gehalten, ist mit Draht geformt, dergestalt, dass ein Schattenbild als zweite Botschaft erscheint. Die Gegenwärtigkeit des Herzschlages, seine Existenz zwischen Vergangenem und Künftigen markiert den Augenblick der wahrnehmbaren Gegenwart. Im Schattenbild ist die Flüchtigkeit präsent, jenes Verlöschen markierend, die das erlöschende Licht sowie der Stillstand des Herzens zur Folge hat.

III.
Herzschlag, Wassertransparenz und Blütenblätter fügen sich zu einem Bild der Kommunikation zwischen den Elementen, den Zeiten und den Menschen. Die künstlerisch gesetzten Akzente suggerieren jedoch keinen Kreislauf eines harmonischen Ganzen. Eher sind sie Bruchstücke, deren Verbindungslinien sich erst im Rezeptionsprozess herausstellen. Das durch die Unterteilung angeregte Gestaltempfinden wird in den Zustand der Zuordnungssuche versetzt. Das Bild einer Zeichensprache entsteht. Diese hat die Materialien zwar zu Informationsträgern werden lassen, nicht aber mit einer erlösenden Botschaft versehen. Denn die identifizierbaren Informationen bezeichnen nicht einfach die Zustände, die sie zu verkörpern scheinen: Wasser, Blütenblätter, Schrift an der Wand. Sie sind als Brücken zwischen Materialpräsenz und Gedankenkonstrukt zu verstehen, die überquert werden wollen, mit Schritten aus reflektierter Sinnlichkeit. Die so entstehenden Denkbewegungen werden sozusagen in der Konfrontation mit der arrangierten Konstellation erst erzeugt. Die Zuordnungen erobern dabei keineswegs das Terrain gesicherter Erkenntnis. Vielmehr ist es das Ausbleiben eines schnellen Resultats, dass die Disparatheit der künstlerischen Geste in Material und Aussage zu einem melancholischen Weltverhältnis Zuflucht nehmen lässt. Die Trauer darüber, dass die Materialien der Natur inzwischen nicht mehr sich selbst bezeichnen, sondern für ihre Existenzgefährdung stehen, setzt mit Gesten des künstlerischen Widerstands einen anderen Plan ins Vorstellungsbild. Wasser wird aufgefangen, Blütenblätter werden in Behausungen des Übergangs notdürftig beschützt und die Schrift an der Wand, ruft eine biblische Warnung in Erinnerung. Der folglich mit dem aufscheinenden „Jetzt“ warnend in die Vorstellung gezeichnete plötzliche Herztod der Natur ist einer vermessenen Welt entgegengesetzt. Dagegen kommen die magischen Kräfte künstlerischer Einsicht in einer untergründigen Dimension zum Zuge. Eine Situation der labilen Ausgewogenheit gewinnt Raum. Die Repräsentationen einer verwalteten Welt werden umgangen, unterlaufen. Aus dem Zustand einer melancholischen Schwermut schält sich die Spur der Veränderung, die zweite Seite der Melancholie, ihre Kraft zur produktiven Schöpfung heraus: Die Blütenblätter entpuppen sich als Rosenblätter. Selbst in einem verwelkten Zustand sind sie einem weiblichen Körperbild zuzuordnen, wie es etwa Gina Pana in ihren Performances zu behaupten verstand. Die Rosenblätter spielen mit der Vergänglichkeit und konfrontieren zugleich – nicht zuletzt in der Gegenwart des Elexiers Wasser – mit dem Versprechen auf Leben.

Prof. Dr. Martin Roman Deppner