Beßling: Bild Klang.

Ute Seifert – Aïda Käser-Beck

Das Exponat zum Ausstellungsbeginn setzt ein deutliches Signal, ein Zeichen in der dem Signalcharakter angemessen Farbe. Sie kennen, meine Damen und Herren, das Bild vielleicht schon vom Einladungsschreiben: Eine Fläche in kräftigem Rot besetzt das Zentrum der Karte. Ute Seiferts Bild „Rotrosa“ ist ein Bekenntnis zur Malerei. Zum Auftakt der Präsentation wirkt es gleichermaßen als Statement einer Künstlerin, die ästhetische Grundanschauungen und Gestaltungsprinzipien der Malerei auch in andere Medien weiter trägt, die hier in der Galerie zu sehen sind, in Objekte, Installationen, Raumarbeiten. Wir können an diesem Bild weiter ablesen, dass die Künstlerin die Farbe in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt und wie sie Farbe versteht und in ihrem Werk verwendet: Farbe nicht als Instrument des Abbilds, sondern als ein stoffliches energetisches Ereignis mit Eigenwert.

Damit schließt Ute Seifert an die Errungenschaften der künstlerischen Moderne an, die das Licht bildnerisch erforschte und zudem versuchte, der Farbe als selbstständiger Kraft auf die Spur zu kommen. Mit dem Rot greift Ute Seifert auf eine besondere Farbe zu. Rot gilt als Ursprung des Farbsehens, als erstes Farberkennen, nachdem sich das Gehirn über die bloße Wahrnehmung von Schwarz-Weiß-Kontrasten und Graustufen hinaus entwickelt hat. Rot ist die Farbe des Blutes, steht für Vitalität und Leidenschaft in verschiedensten Ausprägungen, für Liebe ebenso ebenso wie für Kampf und Gewalt.

Obwohl es die Lieblingsfarbe von Kindern ist und als Kolorit vor den Toren glamouröser Festivals dient, trägt Rot die nicht vollends beherrschbare Wildheit der menschlichen Natur in sich, die Unbezähmbarkeit brodelnder Lava eines Vulkans. An Rot lässt sich kaum unbeteiligt entlang flanieren, es fordert heraus. Der US-Maler Barnett Newman hat in seiner berühmten Serie „Who’s afraid of Red, Yellow and Blue“ nicht die Furcht vor der Farbe selbst zum Ausdruck bringen wollen, sondern die Angst vor ihrer Verwandlung in eine Idee, vor ihrer Indienstnahme für eine Ideologie. Dadurch würden seiner Ansicht nach die Farben zerstört. Er wolle „mit dem Chaos der reinen Phantasie“ beginnen. „Ich habe immer mit der Farbe gearbeitet, ohne mich um die bestehenden Regeln für Intensität, Wert oder Nichtwert zu bemühen. Auch habe ich Farbe noch nie manipuliert. Ich habe versucht, Farbe zu erschaffen“, sagt Newman.
Die Vorstellung einer von Verfälschung freien, Energie freisetzenden bildnerischen Urgewalt schwingt hier mit. Ich glaube, dass auch Ute Seifert das hohe malerische Ziel verfolgt, Farbe zu einer Ursprünglichkeit zu führen, Farben mit solch unmittelbarer Energie sprechen zu lassen, dass der Betrachter in seiner Wahrnehmung sowohl nach außen als auch nach innen blickt, dass ihn das Farberlebnis die eigene Leiblichkeit und Sinnlichkeit spüren lässt, und zwar nicht allein im Dialog mit einer Fläche, sondern in der darüber hinaus reichenden Erfahrung eines von Farbe erfüllten Raumes.

Das kräftige Rot ist nur die eine Hälfte von Ute Seiferts Bild. Die andere ist matt rosa. Die aufhellenden Weiß-Anteile erscheinen wie Dunst oder Nebel auf der Oberfläche. Lassen sich im linken Sektor mit dem satt leuchtenden Rot eher sanfte Vibrationen in der Farbschicht feststellen, ist die rechte Hälfte bei aller Farbblässe stärker strukturiert. Das Bild, dem ich hier exemplarisch besondere Aufmerksamkeit widme, verweist mit Rot und Weiß auf zwei Farbqualitäten, an denen Ute Seifert bereits in mehreren Werkreihen intensiv gearbeitet hat. Dadurch ist ein Spektrum zwischen Stille und Versenkung auf der einen Seite und offensiver Vitalität auf der anderen Seite aufgeblättert, zwischen Leere als Quelle der Gestaltfindung und Raum füllender Behauptung. Die Künstlerin begreift dies nicht nur als ästhetische Kategorien, sondern sieht farbmalerische Phänomene auch unter lebensphilosophischen Gesichtspunkten. Führt uns das Bild Varianten von Tiefe und Schichtung vor Augen, so zeigt es auch, dass das Zusammentreffen verschiedener Ausdrucksformen die Wahrnehmung intensiviert, dass vergleichendes Sehen eine besondere Qualität verspricht, dass sich Grenzen auch potenzielle Durchgänge bergen, dass aus der Begegnung zweier unterschiedlicher Bild-Bezirke nicht nur die Summe der Elemente resultiert, sondern eine qualitative Steigerung.

Diese Überlegungen bauen bereits eine Brücke zum Titel dieser Ausstellung und der damit direkt verknüpften Arbeit: „Ist das Dazwischen auch ein Ort?“. Begegnungen und Übergänge werfen immer auch die Frage nach Zwischenräumen auf. Bevor ich aber auf die Installation im dritten Raum zu sprechen komme, aus deren Text der Titel stammt, möchte ich mich zunächst weiteren Arbeiten in diesem und im nächsten Raum zuwenden. Sie stammen aus einer Werkreihe, die Ute Seifert „Tag für Tag“ nennt. Das ist nahezu wörtlich zu nehmen. Vielleicht nicht täglich, aber doch in steter zeitlicher Folge bringt die Malerin Farbfelder in vielfacher Schichtung auf, eine Aneinanderreihung von auf den ersten Blick immer gleichen Flächen in der Horizontalen, in der Vertikalen und in der Tiefe.
Dies ließe sich als eine meditative Übung sehen. Vielleicht sogar als Konzept: Viele Künstler haben die zeitlichen Verlauf protokolliert und mit ihren jeweiligen Ausdrucksmitteln zu einer Chronik zusammengefasst, zu einem Kalendarium, in dem sich die jeweilige Gestimmtheit und Verfassung des Künstlers oder der Künstlerin abgelesen werden könnten.

Bei Ute Seiferts Arbeit verhält es sich meines Erachtens anders. Wenn wir vor den Bildern der „Tag für Tag“-Serie länger verweilen und uns nicht nur dem Gleichmaß meditierend hingeben, dann blicken wie auf Überlappungen, schauen in Zwischenräume und bemerken Übergänge. Wir können feststellen, dass sich in der steten zeitlichen Abfolge des bildnerischen Aktes nicht allein Wiederholung im engeren Sinne ereignet, sondern dass Variationen entstehen. Mehr noch: Uns wird vor Augen geführt, dass sich gerade, vielleicht nur in der steten Verrichtung gleichartiger Dinge Differenz und damit Neues einstellt, das wir auch als ein solches identifizieren können.

Entwicklung vollzieht sich demnach nicht notwendigerweise in spektakulären Sprüngen, das heißt in vermeintlichen Neuschöpfungen, sondern in Abwandlungen des Gewohnten. Diesen Zyklus könnte man sich vorstellen als ein Mühlrad, das bei der stets gleich Drehung nie dasselbe Wasser, zumindest nicht in dieser jeweiligen Zusammensetzung mitnimmt. Stets lagert sich etwas Herkömmliches, Gewohntes und Gewöhnliches an, und Anderes mischt sich dazu, so dass aus bestimmten Konstellationen Besonders erwächst. Das gilt für bildnerische Prozesse und für gestalterische Praxis, für die Kunst und für eine bewusste, aktive Lebensführung.

Kommen wir noch auf eine weitere Werkgruppe zu sprechen, die thematisch an die Reihe „Tag für Tag“ anschließt. Ute Seifert hat mehrere Leporelli ausgelegt, Fadendrucke als Monotypien. Hier ist Farbigkeit ausgeblendet. Das Schwarz-Weiß greift nicht zuletzt Aspekte fernöstlicher Philosophie auf, mit der sich die Künstlerin ebenfalls eingehend befasst. Damit ist auch der Rundlauf der Leporelli gedanklich in Verbindung zu bringen: Die Bücher sind so gebunden, dass sich darin endlos weiterblättern ließe, die Cover bilden allenfalls eine vorübergehende Zäsur, Übergang und Gelenkstelle.

Zwischen Blick und Augenblick zeigen die Drucke in ihrem Verlauf eine leichte, leise Formveränderung. Nur mit entsprechender Muße kann der Betrachter die Verwandlung wahrnehmen. Die Künstlerin variiert den Fadenabdruck vielfach, bündelt das Lineare in der Wiederholung zum Flächigen, lässt Bewegung als Negativform erscheinen, schafft neben dem linearen Fluss flächige Netze und Geflechte, die sich durch die begleitende Klangspur zu imaginären Räumen erweitern.

Die musikalische Arbeit von Aida Käser-Beck siedelt in einem Zwischenreich von Geräusch und kultivierter Klanglichkeit. Die Töne des mit verschiedenen Gegenständen wie Onyx-Kugel, Tischtennisball oder Perkussion-Schlegel direkt an den Saiten angeschlagenen Flügels vagabundieren ohne eindeutig erkennbares Ziel. Einzelne Elemente stechen heraus, sie scheinen zu verweilen, ihrem eigenen Schall zu lauschen, ihrer Spur nachzuhängen oder eine neue zu suchen. Die Töne verweben sich stellenweise zu eher mobilen, flüchtigen Klanggehäusen, als dass sie feste musikalische Architekturen bildeten. Die Tonspur kann auch für sich stehen, begegnet also Bild und Zeichen auf Augenhöhe und eignet sich wohl gerade deshalb so gut als Korrespondenzpartnerin von Ute Seifert Faden-Arbeiten.

Nun gelangen wir zum dritten Raum der Ausstellung, in dessen Mittelpunkt ein installativ präsentierter Text steht, der Zwischenzustände und Wegstrecken, Momentaufnahmen und Durchgänge thematisiert. Flankiert wird die Textprojektion durch eine Reihe von vier Arbeiten, in denen Nagellack auf Transparentpapier aufgebracht ist, also durchscheinende Materialien, mit denen das Verhältnis von Bildgrund und Bildmotiv thematisiert, in denen Transparenz und Transformationen angesprochen ist.

Dazu wird im Ausschnitt eine Flughalle sichtbar, die jene zahllosen Transiträume repräsentiert, die unser mobiles Leben prägen. Warten und Passagen bestimmen unsere Existenz. Allerdings folgen wir eilig meist äußeren Anlässen und reflektieren weniger unsere innere Navigation. Dennoch, und das stellt die sich als Bild fast verflüchtigende Flughafenaufnahme eindrücklich dar, wirft uns gerade das Unterwegssein auf unseren Status zurück. Und es stellen sich flüchtig-diffuse Fragen ein, welcher Weg der richtige sei, der gerade oder der Umweg, der kurze oder der lange, wie es in dem projizierten Text heißt. Zumeist auf der Passage melden sich Reflexionen über existenziell so bedeutsame Orte wie Heimat. Wobei:
Ist Heimat ein Ort der äußeren oder mehr unserer inneren Welt?
Greifen wir eine Frage aus dem projizierten Text heraus. Über „Gibt es ein Niemandsland?“ lässt sich in viele Richtungen nachdenken: Ist es niemandes Land, ist es ein Land, in dem niemand anzutreffen ist, ist es ein abgelegenes unwirtliches Land, oder eines das gerade weil es noch niemand kolonisiert, besiedelt hat, ungeahnte, vielleicht sogar aufbruchsfreudig hoffnungsvoll stimmende Potenziale in sich trägt.

Ute Seifert verleiht ihrer Textinstallation eine Form, die diese Mehrbödigkeit und Perspektivenvielfalt buchstäblich fassbar macht. Sie hat den zentralen Begriff „Orte“ aus dem Karton, auf den der Diaprojektor den Text wirft, herausgeschnitten. Dadurch ist der Text unterbrochen, die Fragmente erscheinen auf der Wand als der zweiten Projektionsfläche. So entsteht ein Verweis auf Leerstellen, Referenzen und Resonanzräume, die in einem Text enthalten sind, auf einen Subtext, der häufig mindestens ebenso wichtig ist wie das geschriebene Wort selbst, weil er um so mehr die aktive Teilnahme des Rezipienten einfordert. Das Kernwort „Orte“ erscheint in einer Negativ- und einer Positivform, und zwar auf verschiedenen Ebenen, was die Relevanz verschiedener Trägermaterialien für die Textaussage betont. Die Ebenen wirken komplex zusammen. Nicht zuletzt stellt die Projektion an sich eine Form- und Denkfigur dar, die unsere Wahrnehmung der Dingwelt und unseres Selbst prägt: Projektion als individuell mitgestaltetes Weltverständnis und – im Dialog mit dem Außen – als Selbstentwurf und Selbstbestimmung.

Wenn wir den Ausstellungstitel „Ist das Dazwischen auch ein Ort?“ als tatsächliche Frage nehmen, dann – und damit möchte ich zum Schluss kommen – können wir nur mit einem entschiedenen Ja antworten.
Zwischen Innen und Außen, zwischen Träumen und Wachen, zwischen vorbewusster Empfindung und reflektierter Wahrnehmung, zwischen Natur und Kultur, zwischen Sinnlichkeit und Sinnbildlichkeit von Materialien und Motiv legt Ute Seifert ihre Kunst an. Mit reduzierter, verdichteter Bildsprache öffnet sie weite Wahrnehmungsfelder und Assoziationshorizonte. In den Empfindungsräumen, die von Farbstofflichkeit und Formprägnanz bestimmt sind, sorgen Aura und Atmosphäre für eine direkte, körperliche Ansprache des Betrachters.

In Zwischenräumen und Schwellensituationen, an Orten des Transits, die in der künstlerischen Wendung zu Bezirken der Transformation und Transzendenz geraten, schaffen Unschärfen besonders präzise Empfindungen. In einem Dazwischen von Wachsein und Verträumtheit fließen Erinnertes, gegenwärtig Erlebtes und für das Künftige Aufscheinendes zusammen und lassen uns für Augenblicke ganz eintauchen in miteinander korrespondierende Räume um uns herum und in uns selbst.

© Dr. Rainer Bessling 2014