Beßling: ENCORE

Ute Seifert. Mimis Erbe. Worpswede. 16.6.2023

Mein Austausch mit Ute Seifert für diese Rede begann kurz vor der Abreise der Künstlerin nach Japan. Sie besuchte im vergangenen Monat zum wiederholten Mal das ostasiatische Inselland und stellte erneut dort aus. Sie war im Rahmen eines Reise- und Recherche-Stipendiums auf den Spuren des japanischen Dichters Basho unterwegs. Ein Thema war due Auseinandersetzung mit Ansichten des ikonischen Mount Fuji. Nach der Rückkehr äußerte sich Ute Seifert begeistert über das Erlebte, über das Interesse des Publikums, so als treffe sie dort auf Wahlverwandtschaften, fast so als befände sich in Japan ihre ästhetische Heimat. Damit ist sie bekanntlich nicht allein. Denkweisen, Kulturgeschichte und Ästhetik Japans beeinflussen den Westen lange schon und nachhaltig.

Ein Blick auf die Exponate hier im Raum macht dies sichtbar. Die Dimensionen, die Proportionen, die Aufgeräumtheit und Konzentration, all das sind Momente, die an Geisteshaltung und Gestaltverständnis der japanischen Kunst und Kultur denken lassen. Zugleich legen die Exponate in ihrer Formensprache Assoziationen an die Minimal Art nahe, die in den 1960er Jahren in Nordamerika ihren Ausgang genommen hat. Eine der geometrischen Ordnung, der Konkretion und einer Farbfeldstruktur verpflichtete Kunst trat als Gegenbewegung zur gestischen Malerei der Nachkriegszeit und wirkt bis heute nach.

Koordinaten für das Werk der in Ottersberg lebenden Künstlerin sind also sowohl in der fernöstlichen als auch in der westlichen Kultur zu suchen. Dabei handelt es sich nicht um eine Reminiszenz an vergangene Zeiten. Die Präsentation hier in diesem Raum, in dieser Zeit und vor dem Hintergrund aktuellerBewusstseinslagen und Debatten vermittelt, wie relevant der darin sichtbar werdende ästhetische Weltzugang ist. Lässt sich das, was wir hier sehen, nicht gerade als Kunst der Zeit und zu unserer Zeit sehen? Sind konkrete Malerei und minimal art nicht gebotene Reflexe auf das, was derzeit in Bildströmen, überwältigenden medialen Formaten und suggestiver Formlosigkeit auf uns eindringt? Lässt uns an Zen geschulte Kunst die Gegenwart besser verstehen oder nur besser verkraften?

Der französische Philosoph, Aktivist und Kritiker Michel Foucault schrieb bereits 1966 in „Die Ordnung der Dinge“:

„In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung des Raums, indem es schließlich möglich ist zu denken.“
Dazu eine kurze Zwischenbemerkung: Wir sehen tausend Dinge am Tag, aber keinen Tag. Wir können die Zusammenhänge zwischen den Dingen nicht mehr herstellen und messen jedem Eindruck Realität zu. Uns gehen die Filter verloren. Wir versinken in der Bilderflut. Nur in der Besinnung auf uns selbst und unsere Bezüge zu den Dingen bietet sich die Chance, Bedeutung und Sinn zu erschließen.

Ein Aspekt des künstlerischen Minimalismus scheint mir für die Betrachtung von Ute Seiferts Kunst besonders hilfreich zu sein. Das sind die Kategorien presence and place. Die erste verweist auf die Ablösung der Repräsentanzaufgabe des Bildes durch dessen Präsenz. Die zweite markiert das Bild als einen Ort. Das Bild definiert den Ort, indem es als materielles Objekt in dem Raum wirkt, in dem sich Werk und Betrachtende gleichermaßen befinden.

Dabei treffen drei Räume aufeinander, überlagern sich oder verschmelzen: der reale Raum (real space oder actual space), der traditionelle illusionistische Tiefenraum (illusionistic space) und der „buchstäbliche Raum“ (literal space), also der Raum, den wir sprachlich zu erfassen suchen.

Spannung entsteht dadurch, dass sich unvermeidlich um jede einzelne Markierung auf der Bildfläche herum ein erzählerischer, metaphorischer oder spiritueller Bezirk bildet, der aber kein wirklicher Illusionsraum ist, weil die materielle Präsenz des Bildzeichens der Illusionsbildung entgegensteht.

Ute Seiferts Malerei zählt zum weiten Spektrum von Abstraktion und Konkretion, hinter der Reduktion steht Grundsätzliches: Malerei sucht das Geistige hinter den Erscheinungen Malerei sucht Bestand und Bleibendes hinter dem Zufälligen, Flüchtigen Malerei exponiert das Materielle Malerei markiert das spezifisch Mediale Malerei kappt alle Referenzen zu einer Welt außerhalb ihrer eigenen Realität. Malerei tritt aber auch als Suche nach Anschlüssen in einer ersten Wirklichkeit auf.

Der erste Zugang zu dieser Ausstellung soll das Format sein: Wir treffen auf überwiegend kleinere Bildtafeln. Das Format setzt nicht nur den Rahmen für die Form, das Format gehört zur Form. Kleinere Formate minimieren nicht die Bildwelt oder die Bildwirkung. Manchmal scheint gerade in Miniaturen Monumentales auf. Über die Größe entscheidet nicht das numerische Ausmaß, sondern ein inneres Maßverhältnis, eine Stimmigkeit. Im Quadrat treffen zwei Richtungsqualitäten aufeinander: Versammlung, Verdichtung, aber auch Öffnung zu allen Seiten. Zentrieren und Verströmen wirken zusammen. Kompositorisch betrachtet treten häufig zwei Flächenformen auf: zwei Hälften oder Felder im Größenverhältnis 1 zu 2. Die Assoziation zu einer Horizontlinie stellt sich unwillkürlich ein _ wie etwa im Motiv der Einladungskarte- , aber auch der Gedanke an ein allgemeines Oben und Unten entsteht, an aufwärts Strebendes und Verwurzeltes oder ganz fundamental an das Eine und das Andere. Trennlinien markieren Grenze oder Bruch, sorgen für die Identität eines Bezirks. Sie teilen, verbinden aber auch. Was auseinander fällt, hängt auch zusammen. Ein aufeinander Verweisen kann auch als ein aufeinander Angewiesensein gelesen werden.

Ein begrenzter Raum, die Begrenzung des Bildes und die Begrenzung des Blicks sorgen für Klarheit, Stille und Geräumigkeit. Während Überfluss und Überfülle den Blick verengen, weil sie reflexhaft Abgrenzung und Eingrenzung hervorrufen, schafft Reduktion Offenheit, Weite und Tiefe. Beschränkung schafft Freiheit, wir besitzen die Freiheit zur Beschränkung. Selbstbescheidung ist keine Selbstbeschneidung. Konzentration und Kontemplation lassen sich als Widerstand gegen Fülle und Überfluss formieren. In der Stille intensivieren sich die Sinne.

Das serielle Arbeiten der Künstlerin geht von einem eingegrenzten Blickwinkel aus, geht in einer begrenzten Wahrnehmungswelt auf und entfaltet sich in einer Vielzahl Möglichkeiten, die Wiederholung und Differenz vereinen. Manchmal wirkt es, als streuten sich aus, manchmal erscheint die Reihung folgerichtig, in dem Sinne, das ein Bild aus dem anderen folgt. Kunst entsteht eben aus Kunst.

Der Maler Willem de Kooning hat es so formuliert: „In mein Blickfeld tritt immer nur ein kleiner Ausschnitt. Dieser begrenzte voreingenommene Blickpunkt wird manchmal sehr klar und deutlich. Ich habe ihn nicht erfunden. Es gab ihn schon vorher. Von allem, was an mir vorüberzieht, kann ich nur einen kleinen Ausschnitt erkennen, aber ich höre nicht auf, hinzusehen. Und manchmal kann ich so fürchterlich viel sehen.“ Diese Beobachtung trifft sich mit der These Baudelaires: „Die menschliche Aufmerksamkeit ist umso stärker, je begrenzter sie ist und je mehr sie ihr Beobachtungsfeld einschränkt. Schlecht fasst, wer nach zu vielem greift.“

Zeit scheint in diesen Bildern angehalten, aufgehoben, festgesetzt und zugleich nimmt sie als Dauer eine spürbare, fast greifbare Gestalt an. Sie gibt sich verdichtet und zentriert und strahlt als Farbgeschehen und strömt als Flächenausdehnung. Sie versteckt sich im Linienverlauf und pulsiert in der Materialhaut. So wirken die Stofflichkeit des Bildträgers und das Farbmaterial auf engstem Raum zusammen. Das Bild als Objekt und als Oberfläche treten in einen Dialog. Leinwand oder Papier sind nicht allein Bildträger, sondern selbst als ein Bildobjekt, nicht allein Fläche, sondern Plastik im Raum. Die Volumenanmutung korrespondiert mit einer feinstofflichen Oberfläche, Jade verwandt, mit unterschiedlichen Eigenschaften: durchscheinend – opak/stofflich, pulvrig – fließend, feinporig – seidig/glatt.

Eine solche Schicht reflektiert das Licht auf subtile Weise. Licht ist der für das menschliche Auge adäquate Sinnesreiz. Dabei wird die Intensität der Lichts als Helligkeit wahrgenommen, die spektrale Zusammensetzung als Farbe. Licht entspricht am ehesten dem menschlichen Maß und Messen, wir nehmen es in seinen Qualitäten unmittelbar wahr. Wir nehmen mit dem Auge Maß, gleichen reflexhaft Dimensionen und Proportionen ab, wir setzen Teile in Relation zueinander, wollen immer das Ganze sehen und rechnen dafür das Fragment hoch. Wir dynamisieren das Statische des Bildes durch Herstellung von Beziehung, ziehen Spannung durch Verläufe und Richtungen ein, richten Konstellationen mit dem Auge her. Betrachtende setzen sich in körperlichen Bezug zu dem Objekt über die Position im gemeinsamen Raum. Das Ausrichten und Maßnehmen, die Maßverhältnisse und Maßstäbe sind in uns angelegt, Kontext und Konstellation sind Dispositionen der Wahrnehmung. Nichts ist isoliert, nichts gilt für sich allein, alles steht in einem Zusammenhang, alles ist auf etwas gerichtet, auf etwas bezogen.

Die Malerin setzt in ihrer Bildsprache auf die versammelnde und aktivierende Kraft der Stille und der Leere. An Schwellen und in Freiräumen, aber auch im schillernden Binnengeschehen der Farbflächen intensiviert und fokussiert sich die Wahrnehmung. In verdichteten Pausen kann sich der Blick entschleunigen und erneuern und zugleich ausschwärmen. Bisweilen aktiviert ein Farbschleier die visuellen Erkundungskräfte und öffnet Perspektiven für eine gedankliche Identifizierung. In der kontemplativen Versenkung, zu der die formal und farblich  reduzierten und konzentrierten Bilder einladen, kommt das geistige Auge zu der Ruhe, die notwendig ist, um auch die tieferen Klangschichten, die Zwischentöne und Randgeräusche dieser visuellen Kammerspiele wahrnehmen zu können. Für diese Fokussierung spielen das bewusst begrenzte Repertoire und ein einheitliches Format eine zentrale Rolle. Nur im Gleichartigen lässt sich Differenz ausmachen. Der Betrachter muss in die Lage versetzt werden, sich in Form, Farbe und Format leiblich und gedanklich einzumessen, um sich darin mit- und nachschöpfend bewegen zu können.

So wie Sprache nicht nur Ausdruck, sondern Organ des Denkens ist, ist Malen nicht nur Ausdruck, sondern Organ des Findens, des Empfindens und Durchfindens. Wie viel Metaphysik offenbart sich in dem physischen malerischen Material? Denken und Andacht spielen ebenso zusammen wie Reflexion und Reflex. Die Überraschung ist die natürliche Feindin des Nachdenkens, Kunst überrascht gern, sie arbeitet bevorzugt mit Plötzlichkeit. Vollständige Abstraktion und vollständige Autonomie gibt es nicht, der Weg dorthin und der Weg von dort hinaus führt immer über das Leben und die Welt. Objekt und Subjekt, Sinne und Sinn sind untrennbar in Parallelen und im Widerstreit miteinander verbunden. Wahrnehmung reibt sich immer an Wirklichkeit. Realismus und Abstraktion sind kein entweder-oder, sondern ein sowohl-als-auch.

Und dann noch einige Bemerkungen zur Farbe:
Im Kolorit beschränkt sich die Malerin in ihrem Gesamtwerk auf die Grundfarben und auf Schwarz und Weiß. In dieser Ausstellung dominiert die Farbe Rot. Die Künstlerin beschäftigt sich mit dem Rot intensiv bereits seit Mitte der 1980er Jahre. Sie untersucht dessen Farbkräfte und Farbsignale, dessen Stimulanzien auf verschiedenen Ebenen. Dazu fügt sie als Assistenzfarben zumeist Schwarz, Grau, Blau. Die Frage, was das Rot sei, heißt zugleich, wie und woraus es geboren ist, womit es korrespondiert, komplementär, kompensierend, konträr, ins sich aufnehmend, aufgeladen, umfangend, sich gegenüber stehend, ineinander gleitend.

Die Binnenstruktur der Farben als Formen wird als Prozess, als dynamisches Geschehen erkennbar. Offenporigkeit ebnet den Weg zu tiefer liegenden Schichten, zugleich agiert die Oberfläche als Membran in den Raum. Die psychischen, physiologischen und psychologischen Aspekte der Farbe werden somit aufgerufen und zusammen gedacht werden. Auch wird deutlich, dass es nicht nur den einen, den immer gleichen Ausdruck, die gleiche Wirkung einer Farbe gibt. Ein Rot kann auch still sein, Gelb kann sich so verströmen, dass es nicht nur alles wärmt, sondern auch alles attackiert. Blau eröffnet Tiefe und Weite, physisch und metaphysisch. Weiß signalisiert Verschwinden und Entstehen gleichermaßen. Anschaulich wird auch: Farbe ist reine Wahrnehmung, Unbefangenheit, Farbe unterwandert die Reflexion. Farbe ist Attribut, formuliert Anspruch, besitzt Autorität, behauptet Autonomie und Absolutheit. Sie spannt den Bogen von ihren einzelnen Identitäten, Übergängen, Nuancen und Abschattierungen bis zur Universalität des Lichts. Sie spannt Betrachtende und Betrachtetes in einen gemeinsamen Horizont.

Manchmal treibt die Künstlerin das Bildgeschehen an die Grenze der Sichtbarkeit. Andeutungen: „nur eine Ahnung“ lautet ein Bildtitel. Hier ist die Transparenz so ausgeprägt, dass die Malerei kaum wahrnehmbar ist. In solchen Bildern ist die Frage gestellt, wie viel Materie es braucht um Sichtbarkeit zu schaffen. Was nimmt die Betrachtenden noch mit, damit sie ergänzen?

In diesem offenen Raum scheint nichts mehr dem Auge Halt zu bieten. In der dadurch fast zwangsläufig geschärften Wahrnehmung tauchen immer wieder Farbnebel auf, um sich erneut zu entziehen. Farbformen verleihen hier nicht dauerhaft dem Flüchtigen und Veränderlichen Gestalt, sondern erweisen sich selbst als wechselhafte Phänomene. So wie die Bilder sich zeigen und verbergen, offenbaren und verhüllen, schwankt auch der Blick zwischen Fixierung und Freigabe der Gestalt. Das Bild pulsiert sanft in einem steten Wandel amorpher Formen und changierender Farben.

Ute Seifert inszeniert in ihren minimalistischen und seriellen Bildtafeln das Zusammenspiel von Erkennen und Empfinden auf subtile Weise. Sie schafft fundamentalen Farben und Formen eine Bühne zur Entfaltung ihrer atmosphärischen Kräfte. Sie bietet Orientierung und Empfindungsqualität und entzieht diese zugleich wieder. Der Blick kann sich angekommen fühlen und doch wieder fern, das Auge bleibt unterwegs und ist permanent zur Suche von Standort und Perspektive aufgefordert. Der Betrachter sieht sich einem sich selbst reflektierenden bildlichen Geschehen von Formen und Farben gegenüber gestellt, doch im Verlauf der Wahrnehmung wird auch er mehr und mehr auf sich selbst geworfen, auf das Denken, das hinter seinem Auge siedelt, auf die Empfindung, die das Tor jedes Erkennens ist. Die Bilder sind Fenster zur Welt, Türen in verborgene Räume und Spiegel des sehenden Ichs und des Sehens selbst. Kunst zielt auf die Erschaffung symbolischer Formen. In der Formgebung verwirklicht sich ein menschliches Grundbedürfnis: Der permanenten Veränderung eine Gestalt entgegensetzen, die Bestand hat, Ordnung in die Dinge tragen, der Formfindung allgemeine Gültigkeit verleihen und sie zugleich mit der Persönlichkeit des Formgebers imprägnieren. Die geschaffene Gestalt fungiert als Gelenkstelle zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt. An diesem aneignenden Austausch nimmt der Betrachter mit seinen Deutungen und Projektionen aktiv teil. Doch lassen sich Fluss und Feld des Realen in der künstlerischen Form wirklich dauerhaft fassen?

Sind die wirksamsten und nachhaltigsten Aufschreie der Kunst vielleicht doch die stillen oder gar stummen? Wo sind diese angesiedelt, näher am Rückzug, Entzug oder am Widerstand?
Ist Rückzug schon oder noch Widerstand und damit Gegenwehr? Wem nutzen Entzug oder Enthaltung? Ist leiser aber radikaler Appell die Evokation einer entschiedenen Haltung
Eignet sich Verzicht als Fundament inneren Wachstums Entziehen wir uns dem Denken durch Bilder, denken wir in Bildern oder führen uns Bilder erst ins Denken?

Anleihen bei der Literatur:
(Mary Ruefle: am Anfang versteht man die Welt, doch nicht sich selbst, und wenn man endlich
sich selbst versteht, versteht man die Welt nicht mehr)

Goethes sonnenhaftes Auge:

Wäre nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt es nie erblicken, Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken.

„ich möchte mich darauf verlassen, dass es eine irgend geartete Form der Verständigung, der geteilten Wahrnehmung gibt. Und auch, wenn ich zu wissen meine, dass jeder für sich bleiben muss, scheint es mir trotzdem wichtig, das wider jede Vernunft und bis zum Schluss ändern zu wollen.“

„Das Eigentliche, das Herz der Materie, ist an und für sich nicht erzählbar, das Zentrum ist ein nicht betretbarer Ort.“
(Judith Hermann. Wir hätten uns alles gesagt)

FRIEDERIKE MAYRÖCKER
was brauchst du
was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie grosz wie klein das Leben als Mensch
wie grosz wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie grosz wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel
für Heinz Lunzer

(Ingeborg Bachmann: An die Sonne)
INGEBORG BACHMANN
An die Sonne
Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,
Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,
Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen
Und zu weit Schönrem berufen als jedes andre Gestirn,
Weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne.
Schöne Sonne, die aufgeht, ihr Werk nicht vergessen hat
Und beendet, am schönsten im Sommer, wenn ein Tag
An den Küsten verdampft und ohne Kraft gespiegelt die Segel
Über dein Aug ziehn, bis du müde wirst und das letzte verkürzt.
Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier,
Du erscheinst mir nicht mehr, und die See und der Sand,
Von Schatten gepeitscht, fliehen unter mein Lid.
Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt,
Daß ich wieder sehe und daß ich dich wiederseh!
Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein…
Nichts Schönres als den Stab im Wasser zu sehn und den Vogel oben,
Der seinen Flug überlegt, und unten die Fische im Schwarm,
Gefärbt, geformt, in die Welt gekommen mit einer Sendung von Licht,
Und den Umkreis zu sehn, das Geviert eines Felds, das Tausendeck meines Lands
Und das Kleid, das du angetan hast. Und dein Kleid, glockig und blau!
Schönes Blau, in dem die Pfauen spazieren und sich verneigen,
Blau der Fernen, der Zonen des Glücks mit den Wettern für mein Gefühl,
Blauer Zufall am Horizont! Und meine begeisterten Augen
Weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund.
Schöne Sonne, der vom Staub noch die größte Bewundrung gebührt,
Drum werde ich nicht wegen dem Mond und den Sternen und nicht,
Weil die Nacht mit Kometen prahlt und in mir einen Narren sucht,
Sondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonst
Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.

Die unersättlichen Augen
Ist das Gedicht nicht zu schön? Die fließende Pracht dieser langen Verse, feiert sie nicht die Welt, als wäre sie grenzenlos herrlich? Als wäre nichts Böses in ihr, nichts Häßliches und Widerwärtiges? Darf nun denn das, lobsingen ohne Vorbehalt, wie einst die Erzengel am Anfang des Faust? Und tritt denn nicht sogar dort, kaum haben die drei sonnenverzückten Geister ausgesungen, der Teufel auf, höflich und heimtückisch, den Pferdefuß im eleganten Stiefelchen?

Das Gedicht ist schön, weil es den Mut hat, von der Schönheit zu reden. Was es verkörpert in der grandiosen Parade seiner Bilder, im Fall und Widerhall der Klänge, davon handelt es auch. Ohne Schönheit, meint es, kann niemand leben, so wie niemand leben kann ohne Liebe. Diese elementare Wirklichkeit ist der Gegenstand des Gedichts. Inszeniert wird sie als die dramatische Begegnung des Auges mit der Sonne. Man achte auf die Verszahl der Strophen: 5 4 3 2 1 2 3 4 5. Das ist eine
spiegelbildliche Fügung, und die Achse des Ganzen, der einzelne Vers in der Mitte, ist seinerseits noch einmal spiegelbildlich gebaut: „… unter der Sonne als unter der
Sonne…“

So steht jede Strophe einer Partnerstrophe gegenüber, mit Echowörtern und Echobildern, so steht im Ganzen des Gedichts das Wort „Auge“ dem Wort „Sonne“ gegenüber. Soll man jetzt Goethe zitieren: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken“? Das Wissen um diese Zeilen haust so gewiß in den Strophen Ingeborg Bachmanns wie die Erinnerung an die „glücklichen Augen“ des Türmers im zweiten Faust und an Gottfried Kellers „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält!“ Alle Hymnen, die je an die Sonne gerichtet wurden, sind hier zu einem letzten Hochgesang vereinigt. Deshalb spielt das Gedicht auch so gezielt mit altertümlichen Klängen, mit barocken Reflexen schon im Auftakt.

Das wichtigste Zitat aber ist Hölderlin. Die Anrede: „Schöne Sonne“, großartig und einfach, steht in einem der Diotima-Gedichte. Und erst wenn man sich erinnert, wie dort die Geliebte und das Licht zusammengehören, wie der Dichter die schöne
Sonne wahrhaftig der schönen Frau verdankt – „Diotima! Liebe! wie sah von dir / Zum goldnen Tage dieses Auge“ –, merkt man, daß sich auch bei Ingeborg Bachmann im Sonnengedicht ein Liebesgedicht versteckt. Das Du bleibt allerdings namenlos. Und in raffinierter Weise lassen die Verse immer wieder offen, ob der
Anruf an die Sonne oder an einen Geliebten, an eine Geliebte gerichtet sei. „Daß ich wieder sehe und daß ich dich wiederseh!“: Man kann das „dich“ auf das „schöne Licht“ beziehen, und doch wird der Vers erst ganz wunderbar als Beschwörung eines geliebten Menschen. Selbst das blaue Kleid ist nicht so ganz unzweideutig nur der weite Himmel, in dem die Sonne schwimmt, und die „begeisterten Augen“ brennen nicht allein wegen des Gestirns in solchem Entzücken. Nein, was in der Mitte der Hymne lebt und bebt, sind keine philosophischen Überlegungen über die Verwandtschaft von Auge und Sonne, ist nichts Platonisches oder Plotinisches, sondern die wilde Leidenschaft zum Licht und zur Liebe zugleich. Aus ihr allein begründet sich die Verzweiflung am Schluß, in den letzten zwei Zeilen, wo alles in eine große Klage umschlägt, wo aber auch das so
kunstreiche, artistisch perfekt gefügte Gedicht erst zur unbedingten und unkalkulierten, zur schutzlos vollkommenen Dichtung wird – ein Schrei vonunvergeßlicher Melodie.

Peter von Matt, aus Peter von Matt: Die verdächtige Pracht, Erstdruck Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 21.6.1997
Naheliegendes:
Hilde Spiel: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die gestundete Zeit“
Ein Gedicht von Hundert mit Interpretation….
Eva Demski: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Harlem“
Frankfurter Anthologie. Gedicht und Interpretation….
Renate Schostack: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die blaue Stunde“
Frankfurter Anthologie. Gedicht und Interpretation….
Ruth Klüger: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Was wahr ist“
Frankfurter Anthologie. Gedicht und Interpretation….